Was ist eine Sylphide?

Lucile Grahn La Sylphide
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John Neumeier Stiftung
Lucile Grahn als Sylphide - John Neumeier Stiftung

Die Sylphide gehört zu den geheimnisvollen Naturgeistern, die seit der Antike in der europäischen Kulturgeschichte auftauchen. Der Glaube an diese Wesen ist in der ein oder anderen Form in nahezu allen Zivilisationen zu entdecken. Etymologisch ist der Begriff nicht eindeutig: Er könnte auf das griechische „silphe“ („Larve“ eines zukünftigen Schmetterlings), das lateinische „sylphus“ („Geist“) oder „sylvanus“ („aus den Wäldern“) zurückgehen, oder auf das gälische „sulfis“, einen „weiblichen Schutzgeist“.  

Paracelsus (1493-1541), Arzt, Philosoph und Naturforscher der Renaissance, beschreibt die Sylphen in seinem Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus (1566) als Geister der Luft, die dem Menschen sehr ähnlich, aber seelenlos sind. Sie sind heiter, unstet und kapriziös und gehören wie die Gnome (Erde), Undinen (Wasser) sowie Salamander (Feuer) zu den vier Elementargeistern. Sie trachten nach der Vereinigung mit dem Menschen, denn wird der Bund der Ehe zwischen einem Elementargeist und einem Menschen geschlossen, so gewinnen die Geister eine eigene Seele.

In der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts werden Luftgeister zunehmend ästhetisiert und vermenschlicht. In Frankreich erschien 1670 Le Comte de Gabalis von Nicolas-Pierre-Henri de Montfaucon de Villars, ein esoterisches Werk zu verschiedenen Wesen, welche die vier Elemente bewohnen. Die von ihm beschriebene Begierde zwischen Menschen und Elementargeistern beflügelte schon bald andere Schriftsteller:innen. Auch Georgiana, Herzogin von Devonshires Roman The Sylph (1779) greift das Motiv eines Verführers auf: Der geheimnisvolle Briefschreiber, der sich als „Your SYLPH“ bezeichnet, entpuppt sich am Ende jedoch als menschlicher Verehrer. Werke wie Alexander Popes The Rape of the Lock (1714) zeigen Sylphen als weibliche wie männliche Schutzgeister. Im Zentrum des Poems steht Belinda, die ihre Träume mit einer männlichen Sylphen-Gestalt namens Ariel verbindet. Ariel ist der Anführer von Belindas Sylphen, den Geistern koketter Frauen, die nach ihrem Tod in einer Form ihrer Wahl weiterleben und über junge, alleinstehende Frauen wachen. Die Sylphen dieser Epoche entwickeln romantische und empfindsame Züge, zeigen emotionale Sensibilität und die Fähigkeit zu menschlicher Nähe.  

Im 19. Jahrhundert assoziiert man Sylphen überwiegend mit einer weiblichen Gestalt: der Sylphide. Das Romantische Ballett setzte diese Vorstellung besonders eindrucksvoll um. Das Ballett La Sylphide (1832) von Filippo Taglioni erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der von einer Sylphide verführt wird und zwischen menschlicher Liebe und überirdischem Reiz hin- und hergerissen ist. In der Darstellung durch Marie Taglioni, die mit ihren zarten, fließenden Bewegungen und ihrer schwebenden Spitzentechnik berühmt wurde, verkörpert die Sylphide das Ideal des Leichten, Flüchtigen und Unerreichbaren. Gleichzeitig zeigt der Blick auf die Geschichte, dass es im 19. Jahrhundert auch weiterhin männliche Gegenbilder gab. Charles Nodiers Novelle Trilby, ou le lutin d'Argail (1822) erzählt von einem männlichen schottischen Kobold (Hausgeist), klein, geflügelt und verspielt – eine Art nordischer Gegenpart zur klassischen Sylphide. Statt einer weiblichen übernatürlichen Kreatur, die einen sterblichen Mann aus seiner Welt lockt, ist es hier ein männliches übernatürliches Wesen, das eine sterbliche Frau von demjenigen weglockt, der sie liebt.

Mehrere Ballette und Opern basieren auf Nodiers Vorlage, wobei der Grad der Treue zur Originalgeschichte variiert und die Geschlechterrollen der Hauptfiguren meist umgekehrt wurden – wie im Fall von Taglionis Ballett La Sylphide. Taglioni griff zwar auf Nodiers Erzählung als Inspirationsquelle zurück, überführte das Motiv jedoch vom irdischen in das luftige Element. Aus dem Kobold wurde der Luftgeist, aus dem Männlichen das Weibliche. Der französische Ballettmeister und Choreograf Marius Petipa adaptierte ebenfalls Nodiers Novelle; 1870 wurde sein Ballett Trilby im Kaiserlichen Bolschoi-Theater Moskau uraufgeführt. Für die Premiere in Sankt Petersburg nur ein Jahr später verlegte Petipa den Schauplatz von den schottischen Highlands in ein typisches Schweizer Dorf und wich auch in anderen Punkten von der literarischen Vorlage ab. Doch eine Sache ist bemerkenswert: Bei der Sankt Petersburger Premiere wurde die Rolle des Kobolds Trilby als Travestierolle von der Ballettschülerin Alexandra Simskaya getanzt. Diese Umsetzung zeigt die Vielseitigkeit des Motivs, das nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden ist.

Ob weiblich oder männlich dargestellt, die Sylphide oder der Sylph – und mit ihr sämtliche andere Elementargeister – bleibt ein Symbol für das Flüchtige, Geheimnisvolle und Verführerische und hat die Literatur, das Theater und das Ballett über Jahrhunderte hinweg buchstäblich beflügelt.

 

Von Nathalia Schmidt