La Sylphide: Das Ur-Ballett

Es ist der 12. März 1832: ein Abend an der Pariser Oper. Ein Abend, der in die Geschichte des Balletts eingehen wird. Natürlich ahnt das Publikum nicht, dass gleich etwas Außergewöhnliches stattfinden wird. Für die Zuschauer ist es lediglich eine weitere Premiere an der Oper.

Hinter der Bühne sieht es anders aus. Dr. Louis Véron, neuer Direktor der vor kurzem als eigenständiger Betrieb erklärten Oper, setzt viel auf diese Premiere und hofft sicherlich, dass der Abend ein Erfolg werden wird, denn dann kann er mit ausverkauften Häusern rechnen. Auch der Choreograph Filippo Taglioni, der mit seiner Tochter Marie die Titelrolle des Balletts perfekt besetzt hat, eifert einem Erfolg nach. Vielleicht spürt Marie, Produkt ihres Vaters beispiellosen Trainings und daher über eine bis dato ungesehene Technik verfügend, während sie auf ihren Auftritt wartet, dass die folgenden zwei Stunden sie zum Idol zukünftiger Tänzergenerationen machen werden. Möglicherweise erwartet auch der Bühnenausstatter, der die neue, innovative Gasbeleuchtung einsetzt und die Gaslampen im Zuschauerraum löschen wird, um dem zweiten Akt ein gespenstisches Ambiente zu verleihen, eine positive Reaktion vom Publikum. Womöglich ahnen sogar die Bühnenarbeiter, die die Falltüren und die Flugkorsette für die Tänzerinnen vorbereiten, dass etwas Besonderes im Gange ist.

Paris im Sturm erobert

Wie auch immer die Erwartungen der Beteiligten an jenem Abend gewesen sein mögen, La Sylphide, das Ballett, welches an jenem 12. März uraufgeführt wurde, eroberte Paris im Sturm. Die Ära des romantischen Balletts war angebrochen und damit des Balletts, wie wir es heute kennen. Eine Ära, in der die Kunst des Spitzentanzes entwickelt wurde, in der die Ballerina den Mittelpunkt eines jeden Balletts bildete, in der die Hauptfigur häufig ein Märchenwesen war und das Tutu zum Standardkostüm der Tänzerin wurde, aber vor allem auch eine Ära, in der die Tänzerin sich als ein schwebendes, ätherisches, graziöses und federleichtes Wesen im Bewusstsein des Publikums verankerte. All dies hat die Premiere von La Sylphide bewirkt und dadurch die Kunstform Ballett bis weit ins 21. Jahrhundert geprägt.

Was war an diesem Ballett so besonders, dass es eine Stadt – und innerhalb von einigen Jahren ganz Europa – bezauberte und eine Ära begründete? Ohne Zweifel steht der Tanz der Taglioni ganz im Vordergrund. Mit ihr kamen eine neue Art von Tänzerin und ein neuer Tanzstil auf die Bühne. Ivor Guest, führender Tanzhistoriker des romantischen Balletts, fasste die große Auswirkung Taglionis zusammen: „Marie Taglioni hatte Paris durch den Ausdruck ihres Tanzes erobert. Da sie niemals mit [...] virtuosen Füßen blenden wollte, wurde ihr Stil dafür anerkannt, nicht nur originell zu sein, sondern auch künstlerisch besser als der Stil, der an der Opera en vogue war, als sie zuerst dort ankam. Ihre Technik war so kontrolliert, dass diese niemals die Poesie ihres Tanzes überschattete; sie war der Diener, nicht der Herr ihres Stils.“

Marie Taglioni vereinigte nicht nur Tanz und Handlung, sondern führte, durch das anspruchsvolle Training ihres Vaters, die Fähigkeit ihrer Kolleginnen, auf Spitze zu stehen, einen Schritt weiter: Sie tanzte auf Spitze. Diese choreographische Neuheit erlaubte es Taglioni, die ätherische Sylphide perfekt zu verkörpern. Danach gab es kein Zurück: Die Kunst, auf Spitze zu tanzen, hatte sich etabliert, wurde immer weiterentwickelt und beschäftigt bis heute noch zeitgenössische Choreographen.

Patin für überirdische, schwebende Gestalten

Auch die Thematik der Handlung trug viel zum Erfolg von La Sylphide bei. Obwohl die Romantik erst viel später einen Einfluss auf das Ballett ausübte als auf Musik, Literatur und die Bildenden Künste, war sie der Ansporn für zahlreiche Ballette. Das Pariser Publikum konnte sich mit der Unzufriedenheit des Helden James mit seinem bürgerlichen, alltäglichen Leben, seinem Streben nach einer höheren Sphäre, in der sich die Sylphide bewegt, sofort identifizieren.

Auch die Tatsache, dass James die Sylphide in seinem Eifer, sie zu besitzen, tötet, und dadurch den Kontakt zu dieser wunderbaren anderen Welt verliert, sowie die Tatsache, dass er verzweifelt in seiner irdischen Sphäre zurückbleiben muss, waren immer wiederkehrende Themen in den Balletten der Romantik. Zudem die Sylphiden: exotisch, unzähmbar, fremd, jedoch auch anziehend. Die Sylphide verkörperte ein schwereloses, fast körperloses, keusches, unschuldiges Frauenbild, welches Marie Taglioni perfekt darzustellen wusste. Gerade diese Facette der Sylphide wurde begeistert vom damaligen Publikum aufgenommen, und ist auch heute noch ein wesentlicher Bestandteil vom Idealbild der Ballerina. Ob die Wilis in Giselle, die „Schatten“ in La Bayadère, oder die Schwäne in Schwanensee, die Sylphide stand für all diese überirdischen Gestalten Patin.

Sinnbild für die Natur

Aus heutiger Sicht, steht die Sylphide aber auch für die Natur. Sie ist ein Luftgeist und lebt in den Wäldern. Hierher lockt sie auch James. Seine Sehnsucht nach der Sylphide kann auch als die Sehnsucht nach einem idyllischen Leben im Einklang mit der Natur gesehen werden. Aus dieser Perspektive, kann James‘ Wunsch die Sylphide zu besitzen und zu kontrollieren – und ihr daraus resultierender Tod - als Metapher für unsere heutige Beziehung zur Natur gesehen werden.

La Sylphide ist das älteste erhaltene Stück des internationalen Ballettrepertoires. Es legte den Grundstein für alles, was man heute mit dem Wort „Ballett“ verbindet. Als solches kann man es auch als das „Ur-Ballett“ betrachten.

 

Von Vivien Arnold